Stuttgart

Tag der Arbeit – Zeit der Offenheit

Die Wirtschaft zeigt sich in einem trüben Zustand. Auch die Gewerkschaften sind herausgefordert.

Stuttgart - Zum Tag der Arbeit drängt sich der Eindruck auf, als bewegten sich die Gewerkschaften auf der einen Seite und die Akteure der Wirtschaft auf der anderen Seite in völlig unterschiedlichen Welten. Die Unternehmen und ihre Verbände sehen den kriselnden Standort Deutschland auf dem Abstiegsplatz und mahnen massive Reformen an – während die Arbeitnehmervertreter unbeirrt auf den Ausbau ihrer Errungenschaften dringen.

„Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ plakatieren die DGB-Organisationen ihr vielsagendes Motto zum 1. Mai – eine Wunschliste, die sich in diesem Dreiklang wohl nicht erfüllen lassen wird. Zwar gibt es im Gefolge des Fachkräftemangels nach wie vor Diskussionen über kürzere Arbeitszeiten, doch ist die Realität über solche Schönwetterthemen wie eine generelle Viertagewoche schon wieder hinweggegangen. Wer die Personalkosten weiter hochtreibt, der wird nicht mehr sichere Jobs ernten. Stattdessen müssen sich immer mehr Betriebsräte von Bosch bis Galeria mit Instrumenten zur Krisenbewältigung oder gar mit Massenkündigungen herumschlagen.

Womöglich war die Stimmung in der dauergeplagten Wirtschaft noch nie so schlecht wie heute. Es gibt praktisch kein Treffen mehr, wo nicht ein Lamento über bürokratische Hürden und regulatorische Fesseln, steuerliche Lasten und hohe Kosten angestimmt wird. Selbst die teure Schweiz gilt bereits als erstrebenswertes Standortziel. Dem Unmut über die angeblich wirtschaftsfeindliche Ampelpolitik folgen Hoffnungslosigkeit und Untergangsrhetorik.

Allein der trübe Gemütszustand, so scheint es, schwächt schon die Investitionsbereitschaft, was wiederum dem künftigen Wachstum Grenzen setzt. Zudem lösen sich alte Loyalitäten auf. Bekenntnisse zum Standort verstummen, und Unternehmen verlagern in Billiglohnländer, was ihnen machbar erscheint – bis hin zur Forschung und Entwicklung. Mit den Fluchtbewegungen droht auch die Innovationskraft zu schwinden, die der Industrie bislang den Erfolg garantiert hat. Es ist ein Teufelskreis.

Laut der Industriestaatenorganisation OECD hat fast keine große Volkswirtschaft so schlechte konjunkturelle Aussichten wie die deutsche. Deren Schwächephase hat tiefer liegende Ursachen. Dem einstigen Gewinner der Globalisierung fallen nun seine langjährigen Erfolge auf die Füße. Im Ausland wird nicht nur mit geringeren Lohnkosten und teils hohen Subventionen gefertigt, auch die Produktivität hat sich stark verbessert. Folglich lassen sich hierzulande teuer produzierte Autos und Maschinen weltweit nicht mehr so gut verkaufen wie in der Vergangenheit. Für die Zukunft stellen sich fundamentale Fragen: Muss zum Beispiel die Abhängigkeit von den Schwergewichten Automobil, Maschinenbau und Chemie reduziert werden, um etwa einen Umbruch zugunsten neuer Sektoren wie Medizin oder Biotechnologie zu fördern?

1.-Mai-Kundgebungen sind Hochämter der Gewerkschaften – Orte der Selbstvergewisserung für eingefleischte Mitglieder von IG Metall, Verdi & Co. Bühne frei für flammende Arbeitnehmerreden! Am Tag danach verdienen die teils zutiefst verunsicherten Belegschaften wieder alle Aufmerksamkeit.

Forderungen aus Politik und Wirtschaft nach sozialpolitischen Zumutungen machen die Verständigung nicht leichter, wenn niemand da ist, der die Perspektiven glaubhaft darstellen kann. Die Realitäten im Blick zu behalten, ist auch eine Aufgabe der Sozialpartner. Lange Zeit haben sie zum Erfolg der Wirtschaft beigetragen und dürfen gerade jetzt – in der wachsenden Konfrontation um die Transformationsfolgen und politischen Rahmenbedingungen – erst recht nicht den Gesprächsfaden verlieren.

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